Saisonarbeiter, Soldaten und Schwabenkinder

Bereits in vorindustrieller Zeit zeigte sich die bäuerliche Bevölkerung unseres Landes, im Süden noch stärker als im Norden, recht mobil. Besonders nach dem Dreißigjährigen Krieg, einer Zeit gesteigerter Bautätigkeit, entwickelte sich ab etwa 1650 besonders in den alpinen Talschaften von Tirol und Vorarlberg eine intensive Saisonwanderung. Die überwiegende Mehrheit dieser Saisonarbeiter:innen war auf Baustellen in Süddeutschland, im östlichen Frankreich und in der Schweiz tätig. Um eine Vorstellung dieser saisonalen Arbeitsmigration zu vermitteln, folgende Zahlen: Um die Mitte des 17. Jahrhunderts lebten in Vorarlberg etwa 40.000 Menschen; davon begaben sich jeden Sommer 7.000 bis 8.000 Männer, Frauen und Kinder ins Ausland.1 Es war meist die Armut, die zum Weggang riet bzw. zwang. Schon Mitte des 16. Jahrhunderts berichteten Amtsträger der Herrschaften vor dem Arlberg, daß mancher Biedermann all das Seinige angreifen, versetzen und dazu mit Weib und Kindern großen Hunger leiden, etliche ganz aus dem Land mit ihren Familien ziehen müssen.2

Das Montafon und der Bregenzerwald stellten bis herauf ins 19. Jahrhundert das Hauptkontingent dieser Saisonniers. Hier wurde die traditionelle Arbeitswanderung auch noch lange der Industriearbeit im eigenen Land vorgezogen. Auch die bekannteste Saisonwandererin, Regina Lampert aus Schnifis, berichtet, dass ihre Brüder noch in den 1860er-Jahren des Sommers auf Schweizer Baustellen arbeiteten.3 Die Arbeit in den Fabriken war fremd- und disziplinbestimmt, dem bäuerlichen Jahreszeitdenken entgegengesetzt und ohne Sozialprestige. Deshalb mussten seit der Frühindustrialisierung immer auch Arbeitskräfte von außerhalb angeworben werden.

Die Saisonarbeit führte in vielen Fällen zur bleibenden Auswanderung. Bis herauf in die Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten deshalb die Zielregionen der Saisonwanderung auch die Niederlassungsorte der Auswanderer. Aus den Walgaugemeinden sind zwischen 1700 und 1850 etwa 735 aktenkundig bekannte Personen ausgewandert.4 Im Verhältnis zur jeweiligen Bevölkerungszahl stellten Nenzing, Frastanz und Satteins die meisten Auswanderer:innen. Einige von den ausgewanderten Bauhandwerkern haben es zu einer eigenen Baufirma gebracht. Kaspar Winkler (1872-1951) aus Thüringen war mehrere Sommer als Hütekind im Schwabenland, wo er ein Auge verlor, ehe er sich als Maurer in der Gegend von Zürich niederließ. Mit seinem Erfindergeist hat er nicht nur Patente zur Betonhärtung angemeldet, sondern auch ein weltweit tätiges Unternehmen gegründet (Sika).5

Besondere Beachtung in der historischen Literatur finden die sogenannten Schwabenkinder, die im Frühjahr auf langen Fußmärschen – oft bettelnd, weil sie das Stempelgeld für den Grenzschein selbst ebenso wenig aufbringen konnten wie eine Reiseverpflegung – aus Tirol, Vorarlberg und Graubünden auf süddeutsche Bauernhöfe zogen, um als Hirtenkinder und Erntehelfer ihre Familien zu entlasten und ein wenig zu verdienen.

Eine besondere Form der Arbeitswanderung bildete das so genannte Reislaufen, das heißt Söldnerdienst in fremden Armeen. Nachdem sich der Kriegsdienst gerade in der benachbarten Schweiz durch Jahrhunderte hindurch zu einem zwar gefährlichen, aber im besten Fall einträglichen Erwerb entwickelt hatte, wurden auch in Vorarlberg junge Männer von Schweizer Söldnerhauptleuten angeworben. Als Soldaten in fremden Diensten verstarben unter anderen Martin Christa aus Nenzing 1701 in Flandern, Fidel Kraft aus Bürs 1784 im Piemont und Magnus Latzer aus Nenzing 1806 in Spanien.

 

  • 1. Alois Niederstätter, Arbeit in der Fremde. Bemerkungen zur Vorarlberger Arbeitsmigration vom Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert. In: Montfort 1996, S. 108.
  • 2. Ebenda S. 107.
  • 3. Regina Lampert, Die Schwabengängerin. Erinnerungen einer jungen Magd aus Vorarlberg 1864–1874, herausgegeben von Bernhard Tschofen, Zürich 1996.
  • 4. Dieter Petras, Die Auswanderung im Walgau von 1700 bis 1914. Dokumentation und Analyse, Diss. Innsbruck 2015, S. 371.
  • 5. Siehe Meinrad Pichler, Das Land Vorarlberg 1861 bis 2015 (= Geschichte Vorarlbergs Bd. 3), Innsbruck 2015, S. 88 f.