Doppelter Ersatz für die Abwanderer: Das Trentino als Reservoir für neue Arbeitskräfte

Anm.
Die Zeit nach der Eröffnung der Arlbergbahn im Jahr 1884 bedeutet für Vorarlberg die zweite intensive Industrialisierungsphase. Rationellere Maschinen, vereinfachter Personentransport, ungehinderte Rohstoffzufuhr und neue Absatzmärkte führten zu einer massiven Steigerung der textilen Produktion. Dazu benötigte man aber auch zusätzliche und möglichst billige Arbeitskräfte. Viele Unternehmen setzten bei der Akquisition auf Personal aus Gebieten, die in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung auf Grund unterschiedlicher Ursachen zurückgeblieben waren. Die Soziologie nennt diesen Vorgang demografische Rationalisierung. Besonders die Firma Getzner mit ihren Standorten in Bludenz, Bürs und Nenzing setzte nun auf vornehmlich weibliche Arbeiterinnen aus dem italienischsprachigen Tirol. Diese Frauen, in der überwiegenden Zahl aus den Dörfern der trentinischen Bezirke Valsugana, Primiero, Nons- und Fleimstal, waren billig, anspruchslos, an ein hartes Los gewöhnt und konnten sich auf Grund der Anderssprachigkeit kaum mit der einheimischen Arbeiterschaft solidarisieren. Die Anwerbungsagenten organisierten bei Bedarf die Reise, und die Betriebe schossen das Reisegeld vor. Für die angeworbenen jungen Frauen wurden Mädchenheime errichtet, die unter dem strengen Regime von Ordensschwestern standen. Auch konnte man den Eltern in der Herkunftsregion mit dieser Art der Unterbringung und Aufsicht ihre Bedenken hinsichtlich der moralischen und religiösen Entwicklung ihrer Töchter zerstreuen. Die Firma Getzner hielt auch deswegen einen eigenen italienischsprachigen Geistlichen. Wenn es trotzdem zu Schwangerschaften kam, gab es in Bludenz zwei italienische Hebammen.

Die zahlreichen trentinischen und italienischen Männer, meist bei den großen Infrastrukturprojekten beschäftigt, waren großteils Wanderarbeiter. Diejenigen, die sich mit Familien in Vorarlberg niederließen, arbeiteten meist als Tagelöhner oder in der Industrie. Ab den späten 1880er-Jahren finden sich auch erste Selbstständige: Obst- und Weinhändler, Schuhmacher und vor allem Bauakkordanten, die mit eigener Mannschaft bestimmte Baulose selbstständig übernahmen.

Dieser von den Unternehmen geförderte Zuzug von Arbeitskräften aus Welsch-Tirol führte zu einer tiefgreifenden Veränderung der Bevölkerungsstruktur in den Industriegemeinden. So hat sich beispielsweise die Einwohnerzahl von Bürs von 730 Personen im Jahr 1850 bis 1900 trotz Abwanderung auf 1.360 nahezu verdoppelt. Im gleichen Zeitraum wurden aber nur 30 neue Häuser gebaut. Die Wohnungsnot und die Wohnverhältnisse bildeten deshalb das größte Problem und trugen zur Verelendung vieler Immigrant:innen wesentlich bei.

Im Jahr 1900 wurde der Höchststand der trentinischen Zuwanderung erreicht: In Bürs betrug der Anteil österreichischer Staatsbürger mit italienischer Muttersprache 26,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, in Thüringen 25,2, in Bludesch 22,1, in Frastanz 9,5 und in Nenzing 8,8. Nicht eingerechnet sind hier italienische Staatsbürger, Sekondi, die nicht mehr Italienisch als Muttersprache angaben und Wanderarbeiter, die zum Teil nicht erfasst wurden. Bereits 1890 betrug der Anteil von Welschtiroler:innen im Gerichtsbezirk Bludenz 6,3 Prozent, im Landesschnitt dagegen 2,8.

Die einheimische Bevölkerung sah in den welschen Zuwanderer:innen Lohndrücker:innen, die Bauern beschwerten sich über bettelnde und auf den Äckern stehlende Italienerkinder und die Gemeinden stöhnten unter zusätzlichen Soziallasten. Die weit gereiste italienische Sozialreformerin Angelica Balbanoff meinte nach ihrem Besuch in Bludenz und Bürs 1908, die dortigen italienischen Arbeiter seien nach dem russischen Volk die „Erniedrigtesten“ und „Ausgebeutetesten“ gewesen.1 Neben ihrer materiellen Not waren die welschen Immigrant:innen auch rassistischen Vorurteilen ausgesetzt. Erst mit der Ankunft neuer Zuwanderer:innen in den folgenden Jahrzehnten wurden die Welschtiroler:innen als integrierter Teil dieser Region anerkannt; und erst hundert Jahre nach ihrer Ankunft wandte sich LH Dr. Martin Purtscher mit empathischer Zuwendung an die Nachkommen. „Ich weiß, dass ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, vielleicht noch Ihnen selbst in schwerer Zeit viel Unrecht getan wurde.“ Und er stehe nicht an, „für jede Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit um Verzeihung zu bitten.“2 Noch 80 Jahre zuvor hatte ein Vorarlberger Landeshauptmann vor Mischehen mit Italienern bzw. Italienerinnen gewarnt. Die Nachkommen seien „physisch und moralisch gefährdet.“3

 

  • Anm.. Zu diesem Themenbereich gibt es mittlerweile eine recht umfangreiche Literatur. Hier die wesentlichsten Arbeiten: Karl Heinz Burmeister/Robert Rollinger (Hg.), Auswanderung aus dem Trentino – Einwanderung nach Vorarlberg, Sigmaringen 1995; Reinhard Johler, Mir parlen Italiano und spreggen Dütsch piano. Italienische Arbeiter in Vorarlberg 1870-1914, Feldkirch 1987; Robert Sutterlütti, Die italienische Arbeiterschaft in der Phase der zweiten Industrialisierung des Landes 1870-1914, Innsbruck Dipl. Arbeit 1981; Diana Casagrande, Spuren der italienischen Immigration in Vorarlberg, Wien Dipl. Arbeit 2013; Casimira Grandi, Aus dem Land der Armut. Landschaft, Bevölkerung und Gesellschaft des Trentino zwischen 1870 und 1914. In: Montfort, 1997/3, S. 246-292.
  • 1. Angelica Balabanoff, Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin 1927, S. 12.
  • 2. Zit. nach Meinrad Pichler, Das Land Vorarlberg 1861 bis 2015 (= Geschichte Vorarlbergs Bd. 3), Innsbruck 2015, S. 71.
  • 3. Ebenda S. 69.