Saisonarbeiter, Soldaten und Schwabenkinder
Migrantische Bewegung in der ersten Phase der Industrialisierung
Der demografische Umbruch im Zuge der Industrialisierung
— Hoffnungsland Amerika
Doppelter Ersatz für die Abwanderer: Das Trentino als Reservoir für neue Arbeitskräfte
Arbeitskräfte braucht das Land: Migration nach 1945
Auf der Flucht
Brain Drain
Die Vorarlberger Wirtschaft befand sich nach dem Kriegsende 1945 in einer günstigeren Ausgangssituation als die übrigen Bundesländer. Die Fabriken waren nicht bombardiert worden, die französische Militärregierung hatte nur wenige Industrieanlagen requiriert, die Wirtschaftsstelle Vorarlberg-Schweiz verhalf der Industrie zu Rohware und Kohle, und eine milde Entnazifizierungspraxis brachte die belasteten Industriekapitäne bald wieder in den Besitz und auf die Kommandobrücken ihrer Firmen. Dazu kam noch ein überproportionaler Anteil an Marshall-Plan Krediten.1 Aber bereits seit dem Beginn der 1950er-Jahre fehlte es an Arbeitskräften. Als Zielgebiete einer erfolgversprechenden Akquirierung wurden die südlichen Bundesländer Steiermark und Kärnten auserkoren. Hier hatte der Nachkriegsaufschwung noch nicht gegriffen, weil die Umstrukturierung der agrarischen Gebiete nur langsam vor sich ging. In den 1950er und frühen 1960er-Jahren kamen deshalb nicht weniger als etwa 33.000 in der Hauptsache junge Menschen aus den genannten Bundesländern nach Vorarlberg. Sie fanden Beschäftigung in der Industrie, im Bauhandwerk, in der Gastronomie und in Haushalten. Die aus „Innerösterreich“ zugewanderten Arbeiter waren mit denselben Problemen konfrontiert wie die Arbeitsmigrant:innen der Jahre und Jahrzehnte zuvor: mit Wohnungsproblemen, mit geringen Löhnen und mit Diskriminierungen unterschiedlichster Art. Die massenhafte Anwerbung von Arbeitskräften war auch deshalb notwendig geworden, weil immer mehr Vorarlberger:innen wegen der besseren Entlohnung in die Schweiz auswichen. 1960 verdienten fast 8.000 Personen ihren Lebensunterhalt als Grenzgänger:innen. Gut 2.000 dieser Zuzügler:innen aus Innerösterreich lebten und arbeiteten im Walgau; den Schwerpunkt bildeten wiederum die Industriestandorte. Der überwiegende Teil von ihnen blieb in Vorarlberg. Viele gründeten Familien mit mehrheitlich ebenfalls zugezogenen Partner:innen, verbesserten ihre Qualifikation, spielten Fußball, vertrieben ihr Heimweh in landsmannschaftlichen Vereinen und verbreiterten die Basis der Vorarlberger Sozialdemokratie.
Für die niedrigsten Arbeiten in der Produktionskette wurden ab Mitte der 1960er-Jahre neue Arbeitskräfte angeworben. Zum einen war der österreichische Arbeitsmarkt ziemlich ausgetrocknet und zum anderen hofften die Vorarlberger Textilbetriebe mit besonders billigen Arbeitskräften der zunehmenden Konkurrenz aus Asien Paroli bieten zu können, und zudem bot der Status „Gastarbeiter“ einen günstigen Puffer bei Konjunkturschwankungen. Im Spitzenjahr 1973 stellten die sogenannten Gastarbeiter 22 % der unselbstständig Beschäftigten. Wieder gestaltete sich die Unterbringung zu einem wesentlichen Problem. So wurden beispielsweise alte, ehemalige Fabrikräume der Firma Ganahl in Frastanz notdürftig umgebaut und den Arbeitsemigranten – nach Nationalitäten getrennt – zugewiesen. Bis heute blieb Frastanz das Walgauer Zentrum der türkischen Community. Hier befinden sich eine Moschee und ein Kulturverein sowie eine türkische Bäckerei und ein türkisch geführtes Restaurant mit Hotel. Die Mittelschule hat eine deutsche und eine türkische Hausordnung und die türkische Rockervereinigung „Osmanen Germania“ unterhielt hier zeitweise einen Ableger. Weitere türkische Kulturzentren finden sich in Nenzing und in Nüziders.
Nach dem Vorbild anderer europäischer Industrieländer unterzeichnete Österreich 1964 mit der Türkei und im Jahr darauf mit dem damaligen Jugoslawien "Anwerbeabkommen" für Arbeitskräfte. In einem internen Dokument zwischen den Sozialpartnern wurde die Kontingentierung der Arbeitsmigration und die zeitliche Befristung (Rotation) festgelegt. In den folgenden Jahren waren es aber immer wieder die Arbeitgebervertreter, die die Rotation unterliefen. Sie wollten die eben angelernten Arbeitskräfte nicht laufend durch neue ersetzt sehen. So wurden aus Gastarbeitern zunehmend Immigranten, die ihre Familien nachkommen ließen. Stammte in den 1960er-Jahren noch die Mehrheit der Vorarlberger Arbeitsmigrant:innen aus Ex-Jugoslawien, dominierte seit Beginn der 1980er-Jahre die Immigration aus der Türkei. Der Zuzug war massiv: 1961 lebten in Vorarlberg 7.700 Ausländer:innen, bis 1993 wuchs der Anteil auf knapp 50.000 an. Das waren 14,5 % der Vorarlberger Wohnbevölkerung. Nach Wien war das der höchste Ausländeranteil, dem aber bis herauf zur Jahrtausendwende die geringste Quote aller Bundesländer an Einbürgerungen entgegenstand.2 Begegnete die einheimische Bevölkerung den Arbeitsmigrant:innen vom Balkan und aus der Türkei anfänglich mit Distanz und Duldung, so gelang es ab den 1990er-Jahren besonders der FPÖ aus politischem Kalkül ein „Ausländerproblem“ zu kreieren und eine Ausländerfeindlichkeit zu schüren. Und das, obwohl aus der Türkei und aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien kaum noch Menschen einwandern. Von den 5.500 Neuankömmlingen des Jahres 2020 stammten 4.330 aus EU- und EFTA-Staaten, nur 200 aus der Türkei. Bis auf einzelne Familiennachzüge ist die Immigration aus den vormaligen Gebieten, die Vorarlberg Arbeitskräfte lieferten, an ihr Ende gelangt. Im Walgau stammen heute im Schnitt gut 10 % der Bevölkerung aus Ex-Jugoslawien und der Türkei: am meisten in Bludesch mit 17,7 % der Wohnbevölkerung, in Frastanz mit 17,4 %, in Ludesch mit 15,5 %, in Thüringen mit 13,8 %, in Nüziders mit 12,7 %, in Schlins mit 12,6 % und in Nenzing mit 11,4 %. Diese Zahlen enthalten aber nur den Bevölkerungsanteil mit türkischer Staatsbürgerschaft oder jener eines jugoslawischen Nachfolgestaates. Die eingebürgerten Personen mit Migrationshintergrund sind nicht enthalten. Am Beispiel Frastanz zeigt sich aber, dass dort 740 Personen mit den genannten Staatsbürgerschaften leben, aber 930 Gemeindebürger:innen islamischen Bekenntnisses sind.3 Dünserberg war zumindest bis ins Jahr 2000 das einzige Vorarlberger Dorf ohne Ausländer. Im Walgau wie in ganz Vorarlberg haben Arbeitskräfte aus dem Ausland ganz wesentlich am Wohlstand mitgewoben, der belohnende Anteil daran wird ihnen von Teilen der Bevölkerung aber vorenthalten.
Saisonarbeiter, Soldaten und Schwabenkinder
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