Die Martinskirche in Bürs ist trotz ihres hohen Glockenturms von weitem kaum zu erkennen. Das liegt daran, dass das himmelwärts strebende, spitze Dach sich nur wenig von der dahinterliegenden Felswand, dem Stelleschrofen, abhebt, ja optisch vom Felsen geradezu verschluckt wird. Hingegen springt dem von Bludenz Herkommenden ein Leuchtturm ins Auge, der nach der Abenddämmerung mit seinem bunten Lichterspiel auf sich aufmerksam macht. Ursprünglich war dieser Turm der Fabriksschornstein der Textilfabrik der Firma Getzner, die Ende der 1970er Jahre stillgelegt wurde.
Zwei Türme hat also Bürs. Einen profanen, der die früh einsetzende Industrialisierung des Dorfes symbolisiert und einen sakralen, der für die frühe Christianisierung und katholische Tradition steht. Die Kirche St. Martin wird schon im churätischen Reichsurbar von 843 genannt, doch liegen die wirklichen Anfänge im Dunkeln. Es gibt eine Legende, wonach die Kirche ursprünglich im sonnigeren Talgrund gebaut werden sollte. Die dort gelagerten Bausteine sollen jedoch auf wundersame Weise über Nacht zum jetzigen Standort gelangt sein. So blieb der ursprünglich geplante Platz dem späteren Industrietempel der Firma Getzner vorbehalten. Dieser gewaltige, 1836 fertiggestellte Bau übertrifft jedes Kirchenschiff unseres Landes bei weitem. Nach der Stilllegung dieser sogenannten Lünerseefabrik entstand der Lünerseepark, der mit seinem Leuchtturm die wirtschaftliche Potenz der Gemeinde anzeigt.
Das Kircheninnere
Wahrscheinlich stand schon das erste Kirchlein auf dem Platz der heutigen Martinskirche. Um 1480 wurde jedenfalls eine neue, größere Kirche gebaut. Wenn man das Gebäude durch den Haupteingang im Westen betritt, sieht man am gegenüberliegenden Ende des Kirchenraumes noch den spätgotischen Dreiachtelchor aus dieser Zeit. Mit seinem filigran wirkenden himmelwärtsstrebenden Netzrippengewölbe hebt er sich stilistisch stark von dem wuchtigen, flachen Stichkappengewölbe des Langhauses ab, welches Mitte des 19. Jahrhunderts im klassizistischem Stil vergrößert wurde. Leider sind die Deckenmalereien des Bludenzer Künstlers Johann Mathias Jehly d. J. nicht mehr vorhanden. Die ebenfalls aus dieser Zeit stammenden Kreuzwegstationen des Schrunser Maler Josef Anton Bertle, die an beiden Seitenwänden hängen, sind durch Kerzenruß und andere Luftverunreinigungen stark verdunkelt. Dafür erhellen seit der Innenrenovierung von 1937 die Tiroler Kirchenfenster mit ihren verschiedenen Heiligenmotiven fröhlich bunt das Kircheninnere. Auch der Fliesenboden mit blau-gelben Blumenmotiven stammt aus dieser Zeit. Im Chorraum wurden besonders schöne Fliesen mit floralen Motiven verlegt. An der rechten Kirchenwand hängt wuchtig ein Kruzifix des bekannten Barockschnitzers und Bildhauers Johann Ladner aus dem Paznauntal. Jesus schaut mit halbgeöffneten Augen auf die Kirchenbesucher herab. Die plastisch hervortretenden Tränen sind jedoch aufgrund der Entfernung nicht zu sehen. Wahrscheinlich in den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts entstanden, ist das Kruzifix ein reifes Spätwerk des Meisters.
Der Hochaltar
Richtung Chor schreitend, wird der Blick durch den gotischen Hochaltar gefangen, der mit seinen dominanten Farben Rot und Gold sowie durch die leuchtende Buntheit seiner Bilder und Schnitzereien das Auge erfreut. Der neugotische Altar entstand im 19. Jahrhundert. In ihm sind jedoch Teile aus dem spätgotischen Flügelaltar erhalten. Weit oben, unter dem Gesprenge, sitzt der Patron der Kirche und des Dorfes, der Heilige Martin hoch zu Ross und reicht einem Bettler die Hälfte seines eben mit dem Schwert geteilten Mantels. Die heute am 11. November zu Martini weit verbreiteten Martinsbräuche wie Laternenfest, Gänsebraten und Faschingsbeginn haben kaum etwas mit dem historischen Heiligen zu tun. Viele Bräuche sind älter als die dazugehörigen Martinslegenden. Sie kommen noch aus heidnischer Zeit oder hängen mit dem Bauernjahr zusammen. Der 11. November steht für den Übergang vom Herbst zur bäuerlichen Ruhezeit der langen, dunklen Winternächte. Mit dem schwachen Laternenlicht konnte man den Abend noch ein wenig erhellen. Der Martinitag war auch der Hauptzinstag der Bauern, an dem das neue Wirtschaftsjahr begann. Die Knechte und Mägde wurden ausbezahlt, Pachtverträge geschlossen und Steuern abgeführt. An diesem sogenannten Schwellentag wurden Tiere, für die das Futter über den Winter nicht reichte, geschlachtet, so auch die Martinigans. Der 11.11. war auch der letzte Tag vor der vierzigtägigen Fastenzeit bis Epiphanie (Dreikönig). Weihnachten kam als Hauptfeiertag erst später auf. Wie heute noch am Faschingsdienstag wurde noch einmal fröhlich gefeiert und der heurige Wein wurde zur Gans getrunken und aus dem asketischem Heiligen Martin wurde ein Wein- und Gänsepatron. Die Bewohner des alten Bürs, vorwiegend Bauern, konnten so zu Martini ihren Schutzpatron hochleben lassen. Heute noch findet jedes Jahr am 11.11. der Martinimarkt statt. Auch für die im 19. Jahrhundert zugewanderten italienischsprachigen Trentiner Weberinnen und Weber der Lünerseefabrik, war er, der das Gewebe seines Mantels teilte, der Schutzheilige. Trotz über 70 Stunden Schichtarbeit mussten ihre Kinder oft betteln oder auch an den Webstühlen der Textilfabrik stehen. Auch sie konnten zum Heiligen Martin beten, denn er ist auch der Patron der Bettler, Armen und Flüchtlinge. Im Leben räumlich getrennt – die Alteingesessenen beim Kirchturm, die „Welschen“ (Trentiner) in den Arbeiterwohnungen nahe dem Schornsteinturm der Fabrik - ruhen nach ihrem Erdendasein schließlich alle vereint auf „Martes Wiesele“, dem Friedhof neben der Martinskirche.
Neben vielen weiteren Patronaten ist der Heilige Martin aber vor allem der Schutzheilige der Soldaten. Schon sein Name entstammt dem des Kriegsgottes Mars. Er wurde 316/17 im heutigen Ungarn nahe der österreichischen Grenze in Steinamanger (Szombathely) geboren. Sein Vater, ein Römischer Militärtribun, wurde nach Pavia versetzt, wo Martin zur Schule ging und ebenfalls eine militärische Laufbahn einschlug. Als etwa 15jähriger zog er mit der Römischen Armee bis nach Frankreich. Vor den Mauern von Amiens kam es zu der berührenden Szene, die ganz oben auf dem Altar dargestellt ist, sowie auf unzähligen anderen Kunstwerken: Der Soldat, hoch zu Ross, trifft an einem kalten Wintertag auf einen frierenden Bettler. Martin teilt mit dem Schwert seinen Reitermantel und reicht sie dem armen Mann. In der darauffolgenden Nacht erschien ihm Christus im Traum und gab sich ihm als jener Bettler zu erkennen. Aufgrund dieses Schlüsselerlebnis beschließt Martin, der in Norditalien schon mit dem Christentum Bekanntschaft gemacht hat, Christ zu werden. Da die Christen damals das Tötungsverbot noch ernst nahmen, war der Kriegsdienst für Martin nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbar. Er trat aus der Römischen Armee aus. Die Mantelhälfte des Heiligen, die cappa, wurde zu einer berühmten Reliquie. Für sie wurde ein kleines Heiligtum gebaut und so entstand der Name Kapelle. Der Geistliche, der dort die Messe las, wurde zum Herrn Kaplan und die Musikgruppe, die dort aufspielte war die Kapelle.
Der Heilige Martin ließ sich vom ebenfalls Heiligen Hilarius taufen und wurde schließlich Bischof von Tours. Trotzdem lebte er fortan das Leben eines Asketen. Er stiftete das erste Kloster in Frankreich. Dort, in Marmoutier, damals eine Wildnis an der Loire, bezog Martin auf einem schroffen Felsen eine Zelle aus Baumästen. Kurz darauf schon umgaben ihn achtzig Mönche, die in Felsenhöhlen wohnten und mit Tierfellen bekleidet waren. Der Grundsatz dieses sympathischen Heiligen war: „Gott will keine erzwungene Verehrung, was soll ihm ein Glaubensbekenntnis, das mit Gewalt abgezwungen ist? Man darf ihn nicht belügen wollen, sondern muss ihn mit Einfalt suchen, ihm mit Liebe dienen und ihn durch Rechtschaffenheit verehren … Wehe den Zeiten, wo der göttliche Glaube die irdische Gewalt nötig hat; wo Christi Name, seiner Kraft beraubt, Vorwand des Ehrgeizes wird; wo die Kirche ihre Feinde mit Verbannung und Kerker bedroht, sie, die selbst so viele Verbannte und Eingekerkerte unter ihren Bekennern zählt“. Viel Leid wäre erspart geblieben, hätte sich die spätere Kirche an diesen Grundsatz gehalten.
Links und rechts neben dem Heiligen Martin und dem Bettler befinden sich zwei Engelfiguren aus dem Jahre 1886. Aus dem selben Jahr sind zu beiden Seiten des Tabernakels in Halbreliefs „Das Opfer des Melchidesechs“ und „Die Emmausjünger“ dargestellt. Auf dem zentralen Altarbild aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert blicken die beiden Walserpatrone Theodul und Nikolaus zur Maria auf der Mondsichel stehend empor. In ihren Armen hält sie das Jesukind.
In den seitlichen Nischen befinden sich Reliefs (um 1580), links die Heilige Katherina und rechts die Heilige Ursula. Die äußeren beweglichen Flügel sind bemalt. Im geöffneten Zustand sind links die Heilige Barbara und rechts der Heilige Laurentius zu sehnen. Dieser Heilige erlitt laut Legende im dritten Jahrhundert unter Kaiser Valerian den feurigen Märtyrertod auf einem Grillrost. Da das Bildnis des Heiligen, wie angenommen wird, sich ursprünglich in der Laurentiuskirche in Bludenz befand, wurde es durch den Stadtbrand von 1491 in Mitleidenschaft gezogen. Brandblasen und Spuren früherer Restaurierungen auf dem Gemälde machen das glaubhaft. So hat das Abbild des Heiligen auch das Martyrium des Vorbilds erlitten. Im geschlossenen Zustand des Altars sind der Heilige Luzius, Kirchenpatron der Diözese Chur, der Bürs jahrhundertelang angehörte und die Heilige Magdalena zu sehen.
An der Vorderseite des Altartisches befindet sich ein spätgotisches Relief mit der Darstellung Christus und die 12 Apostel. Jesus in der Mitte mit segnender rechten Hand hält in seiner linken die Weltkugel. Die blaue Kugel ähnelt in auffallender Weise modernen Erdfotografien aus dem All.
Über dem Altartisch ist der feste, einbruchssichere Tabernakel angebracht. Die Kunstschlosserei Grießer aus Innsbruck hat ihn mit sechs Emailplatten verziert. Eine der Darstellungen, Jesus als Opferspeise und Opferlamm, spielt auf die Bedeutung des Tabernakels als Aufbewahrungsort der geweihten Hostien an. Diese Art der Aufbewahrung wurde im 16. Jahrhundert durch das Konzil von Trient eingeführt. Davor wurden die Hostien in sogenannten Sakramentshäuschen aufbewahrt.
Ein solches hat sich in der Bürser Martinskirche als Besonderheit erhalten. Die alten Sakramentshäuschen wurden nicht mehr gebraucht und sind aus den meisten Kirchen verschwunden. Das sandsteinerne Häuschen stammt aus der Spätgotik. Vermutlich war es ursprünglich mit Gold und Blau bemalt, zumindest deuten Farbreste daraufhin. Nach dem Umbau 1843 wurde das Sakramentshäuschen an die obere Sakristei versetzt. Dabei wurde leider das Oberteil entfernt und weggeworfen. Es gibt jedoch noch eine alte Überlieferung, wonach es ein Bauer aus dem Dorf mit nachhause nahm und neben seiner Haustüre einsetzte.
Der Taufstein
Eine weitere Besonderheit der Kirche ist der Taufstein aus rötlichem Marmor, ein Werk des bereits genannten Tiroler Holzschnitzer und Steinmetz Johann Ladner. Auf einem quadratischen Sockel erhebt sich kelchförmig der Taufstein mit dem Becken. Die Inschrift auf dem Stein ist auf das Jahr 1754 datiert. Der Stein ist reliefartig mit Muscheln verziert. Am oberen Ende des Beckens symbolisieren Wellenlinien das Wasser. Der hölzerne Deckel ist farblich vom Marmor nicht zu unterscheiden. Oben auf einem kleinen Podest steht schließlich Johannes der Täufer, aus Holz geschnitzt aber gänzlich vergoldet, so dass das Taufbecken ein wenig an einen Siegerpokal erinnert. Der Sieg der Taufe über die Erbsünde im Sinne des Heiligen Augustinus.
Die Seitenaltäre
Die beiden Seitenaltäre mit Viersäulenaufsatz und offenem Gebälk so wie die Kanzel stammen aus dem Jahr 1770. Mit der Ausführung wurde damals wahrscheinlich ebenfalls Johann Ladner beauftragt. Leider fehlen archivarische Belege und so bleibt vieles über die Künstler im Dunkeln. Zudem kam es im 19. Jahrhundert zu einer Regotisierung der Barockaltäre. Deshalb sind nur mehr Teile der barocken Altäre sowie die Kanzel original erhalten. Die Heilige Maria mit dem Kind am linksseitigen Muttergottesaltar und der Heilige Josef auf der rechten Seite stammen aus dem Jahre 1886. Im Oberbild des Marienaltars sind die Heilige Barbara, die Heilige Magdalena und die Heilige Katharina zu sehen. Die beiden Putten am St. Josefsaltar stammen von Johann Ladner.
Die Kanzel
Die Kanzel mit Rocailledekor aus dem Spätbarock wurde Mitte des 18. Jahrhunderts geschaffen. Sie ist flankiert von den Figuren der Heiligen Scholastika und des Heiligen Benedikt aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert.
Die Orgel
Die alte Orgel von Liberat Ammann aus dem Jahre 1844 musste 1981 von der Firma Orgelbau Martin Pflüger aus Feldkirch Gisingen durch eine neue ersetzt werden. Die Orgel verbreitet einen besonders schönen Klang und ihre ästhetische Form macht sie zu einem besonderen Schmuckstück der Kirche.
Der Turm
Im Jahre 1812 wurde der damals noch barocke Zwiebelturm neu gedeckt. Mitte des 19. Jahrhundert, als das Langhaus klassizistisch erneuert wurde, wurde auch der Turm umgebaut. Er hat gekoppelte Spitzbogen in den Rundbogenschallöffnungen. Im Portal des Turmes ist die Jahreszahl 1863 zu lesen. Der Gibelspitzhelm wurde im Jahre 1906 aufgesetzt.
Die Glocken
Im Jahre 1862 kam es zu Spannungen im Dorf. Die Bürser sammelten für ein neues Geläute. Dabei stellte sich heraus, dass die ärmeren Bewohner des Ortes mehr spendeten als die Wohlhabenden. Schließlich wurden dann bei der Firma Graßmeier in Feldkirch vier Glocken bestellt. Die Bürser waren sehr stolz auf das neue Bronzegläute, welches nach Fertigstellung des Turmes aufgezogen wurde. Es soll der Überlieferung nach im ganzen oberen Walgau zu hören gewesen sein. Jedoch schon im 1. Weltkrieg mussten die Bürser schweren Herzens die Bronzeglocken mit den sphärischen Klängen „Gott, Kaiser und Vaterland“ opfern. Die harmonischen Schwingungen der Bronzeglocken verwandelten sich in kriegerischen Kanonendonner, der Tod und Zerstörung mit sich brachte - ganz entgegen der Gesinnung des Heiligen Martin, dem Kriegsdienstverweigerer. Nach dem Krieg konnte man sich nur noch Glocken aus Stahl leisten. Die drei kleineren Glocken stammen aus dem Jahre 1922. 1925 wurde die große Glocke installiert.
Kriegerdenkmal
Das Bürser Kriegerdenkmal ist architektonisch in die Arkaden des Friedhofs St. Martin integriert. Es wurde im Jahre 1958 nach den Plänen des Bludenzer Architekten Mayer errichtet. Das ewige Licht leuchtet den Gefallenen beider Weltkriege, deren Namen in die Marmortafeln an den Seitenwänden eingeritzt sind. Es ist im Sinne des friedliebenden Heiligen Martins zu wünschen, dass solche Denkmäler in Zukunft nicht mehr notwendig sein werden. „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen“ (Matthäus 26,52). Die neue Pfarrkirche wurde 1973 der Heiligen Maria, Königin des Friedens geweiht.
Quellen
Hans Jäger: Geschichte der Pfarrgemeinde Bürs
Andreas Rudigier: Eine kleine Bürser Kunstgeschichte in Bürs – Die Geschichte eines Dorfes Teil 2 2013
Jacobus de Voragine: Legenda Aurea 1263 bis 1273
Wikipedia: Heiliger Martin, Pfarrkirche Bürs